Sitztheorie

Sitztheorie
1. Nach der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zum deutschen internationalen Gesellschaftsrecht beurteilte sich die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft nach dem Recht am Ort ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes. Das galt auch dann, wenn eine Gesellschaft in einem anderen Staat wirksam gegründet worden ist und anschließend ihren Verwaltungssitz nach Deutschland verlegt. Folge einer Verlegung des Verwaltungssitzes nach Deutschland war, dass eine nach dem Recht des anderen Staates wirksam gegründete Gesellschaft ihre vertraglichen Rechte vor deutschen Gerichten nicht durchsetzen konnte, solange sie nicht nach den Regeln des deutschen Gesellschaftsrechts neu gegründet worden war.
- 2. Nach der Rechtsprechung des  EuGH ist die S. mit dieser Folge nicht mit der in Art. 43 und 48 EGV garantierten Niederlassungsfreiheit vereinbar (vgl. die Entscheidungen Centros, Überseering, Inspire Art Ltd.). Das Erfordernis, die Gesellschaft neu zu gründen, komme einer Negierung der Niederlassungsfreiheit gleich. Der BGH hat daraus die Konsequenz gezogen und die S. zumindest im Anwendungsbereich des EU-Rechts zugunsten der Gründungstheorie aufgegeben. Dies bedeutet, dass eine Gesellschaft, die unter dem Schutz der im EGV garantierten Niederlassungsfreiheit steht, berechtigt ist, ihre vertraglichen Rechte in jedem Mitgliedstaat geltend zu machen, wenn sie nach der Rechtsordnung des Staates, in dem sie gegründet worden ist und in dem sie auch nach der Verlegung des Verwaltungssitzes weiterhin ihren satzungsmäßigen Sitz hat, hinsichtlich des geltend gemachten Rechts rechtsfähig ist. Die neue Rechtsprechung eröffnet zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten bei der Wahl des Gesellschaftssitzes und der Rechtsform in der EU. Dies ist v.a. für Fragen der Kapitalausstattung und Haftungsbegrenzung von Bedeutung. Ob die neue Rechtsprechung auch für außerhalb der EU gegründete Gesellschaften gilt, bleibt offen.
- 3. Steuerrecht: Steuerlich bedeutet die Aufgabe der S. für europäische Gesellschaften, dass Briefkastengesellschaften in Staaten der EU und des EWR auch für steuerliche Zwecke anerkannt werden müssen und somit zur Einkommensteuerverlagerung herangezogen werden können.

Lexikon der Economics. 2013.

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